Vorspiel: Wer spricht hier eigentlich?

Queer it! _ Ein weiterer Versuch über einen sich sträubenden Begriff

Bevor wir hier schlaglichthaft und ohne den Anspruch auf Vollständigkeit oder formale Korrektheit offen legen wollen, was für uns als Paranoid Paradise Crew am Konzept von „queer“ wichtig ist, kurz ein wenig Transparenz: „WIR“ das ist eine Gruppe aus ca. 10 Leuten (mal mehr, mal weniger) zwischen Mitte zwanzig und Mitte dreißig, unsere je eigene geschlechtliche Identität entspricht jeweils dem bei Geburt zugewiesenen Geschlecht und wir werden auch zum größten Teil von Anderen so „gelesen“. Niemand wurde intersexuell geboren. Es gibt etwas mehr „Frauen“ als „Männer“ in der Gruppe. Einige wenige verfügen über Expert_innenwissen als DragQueen und DragKing in Partykontexten. Wir sind alle weiß, sind in der DDR bzw. der BRD geboren und sozialisiert worden, besitzen den deutschen Pass und bewegen bzw. bewegten uns im (eher geistes- und sozialwissenschaftlichen) akademischen Umfeld. Wir werden alle als „ohne Beeinträchtigungen“/nicht gehandicapped gelesen und nehmen uns auch selbst so wahr. Wir sind keine Expert_innen in „Queer theory“ und/oder queerem Aktivismus, aber wir arbeiten daran =)

Grundsätzliches.

Eine Möglichkeit des Einstiegs in eine deutschsprachig geführte Auseinandersetzung um den Begriff „queer“ ist die Offenlegung seiner ursprünglichen stark abwertenden Wortbedeutung im Englischen, die am ehesten mit „schräg“, „abartig“, „von zweifelhaftem Charakter“ oder „pervers“ übersetzt werden kann. Der Begriff „queer“ hat im Englischen insofern eine Umdeutung erfahren, als er, beginnend im letzten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts, gezielt von Individuen und Gruppen von Menschen in einem Akt der Selbstermächtigung als Selbstbezeichnung gewählt wurde, die es ermöglichte, den Spieß in Richtung der Beschimpfenden umzudrehen und Verletzungen zu entgehen.

Bei der Verwendung von „queer“ im  Deutschen bleibt sowohl der Schimpfwortcharakter als auch die Geschichte der Umdeutung verborgen. Eine ähnliche sprachgeschichtliche Entwicklung trägt vielleicht der Begriff „schwul“ in sich, aber, um gar nicht erst auf identitäres Glatteis zu geraten: „queer“ ist für uns keine Sammelbezeichnung für nichtheteronormative Lebensweisen, Geschlechtervorstellungen und -praktiken, die hinter Begriffen wie „lesbisch“, „schwul“, „bi“ oder „transsexuell“ stehen. „Queer“ ist eher ein Instrument, das es ermöglicht, hegemoniale Zuschreibungen davon, was Geschlecht zu sein hat, welche Arten von Sexualität legitim sind, wie begehrenswerte Körper auszusehen haben u.v.m. auf Ausschlüsse hin zu untersuchen und diese offenzulegen. Dies macht es, pointiert und beispielhaft formuliert, möglich, so unterschiedliche Dinge wie Homophobie, Transphobie und Sexismus im Hochleistungssport, die sog. Homo-Ehe, die romantische Zweierbeziehung oder auch die rassistischen Strukturen des schwulen Großstadt-Lifestyles kritisch zu beleuchten.

Das spannende am „Queer“-Begriff ist, dass er auf mehreren Ebenen angelegt ist. Einerseits kann die 'queere Brille' zum Einsatz kommen, mit der ein Prozess auf Normativität bzw. die Eingeschränktheit durch die Wirkung von hegemonialen Verhältnissen hin analysiert wird. Sie ist Sichtweise, point of view, Untersuchungsmethode, Hinterfragungsstrategie. Andererseits (und jetzt kommt die politische Wirklichkeit hinzu) enthält der Begriff eine handfeste, rebellische Dimension: „queering society“ als das aktive Stören gesellschaftlicher Machtverhältnisse, sie in aller Öffentlichkeit hinterfragen und anprangern.

Normalität. Normalisierung. Normativität.

Die Wirklichkeit tritt uns alltäglich als etwas Unhinterfragtes, oft auch als etwas Unhinterfragbares oder einfach 'Natürliches' entgegen. Dabei werden Machtverhältnisse (z.B. Geschlechterrollen) tagtäglich (re-)produziert und bleiben gleichzeitig unaufgedeckt, werden sozusagen als stillschweigende Vorraussetzung mitgedacht und -getan. „Queer“ ist eine Möglichkeit, Unsichtbarkeiten sichtbar zu machen aber auch allzu Offensichtliches und scheinbar Klares zu veruneindeutigen und zu verwirren, Kritik zu üben, aber auch Utopien für das Handeln in einer binär männlich-weiblich programmierten Matrix zu proklamieren und in die Tat umzusetzen.

Gender – Race – Class.

In der Entwicklung der „Queer Theory“ hat sich die Trias von Gender – Race – Class als sehr fruchtbar erwiesen, um Machtverhältnisse und Privilegien sichtbar zu dekonstruieren. So können z.B. Geschlechterverhältnisse niemals abseits von rassistischen und Klassen-Strukturen betrachtet werden: Die Lebenswelten und Erfahrungshorizonte einer weißen, deutschen, sich selbst lesbisch definierenden Mittelschichts-Kleinfamilie mit Kind auf dem Lande unterscheiden sich meist radikal von denen eines alleinstehenden, schwarzen, deutschen, sich selbst heterosexuell definierenden Großstadt-Akademikers, der hin und wieder sexuellen Kontakt zu anderen Männern pflegt, und diese sind wiederum mit denen einer weißen, sich selbst als heterosexuell definierenden, im Ausland verheirateten Arbeitsmigrantin ohne Aussicht auf einen deutschen Pass nur schwer vergleichbar.

Heteronormative Matrix und Möglichkeiten des Begehrens.

Die romantische Zweierbeziehung zwischen einer (Bio-)„Frau“ und einem (Bio-)„Mann“ mit 1,4 Kindern – das kann und soll doch nicht alles gewesen sein! Oder? „Queer“ will allen Formen von Begehren vorurteils- und wertfrei gegenübertreten, seien es Hetero-, Homo- oder Bisexualitäten, seien es Monogamie oder Polyamorie, seien es Kuschelsex, Bondage, Fistfuck oder Asexualität. Wichtig dabei ist allein die Blickrichtung auf Fragen, wie: Wer bestimmt, was wertvolle, gute, richtige Sexualität ist? Wessen Privilegien werden durch eine solche normative Setzung gestärkt? Wer wird von der Norm ausgeschlossen?

Kritik an Identitätspolitiken.

„Queer“ will keine neuen Identitätskategorien institutionalisieren, sondern hat seine Wurzeln u.a. in einer Kritik an les-bi-schwulen Identitätspolitiken, in den Ausschlüssen und Abgrenzungen, die diese produzieren und verweist auf etwas, was sich als Produktion einer homonormativen Matrix bezeichnen lässt.

Körper.

In den Fokus des queeren Blicks gerät auch der Körper als Ort, an dem die Kämpfe um die heteronormative Matrix leibhaftig ausgetragen werden. Warum wird Transsexualität noch immer pathologisiert? Warum ist es noch immer weit verbreitete medizinische Praxis, Kindern mit „uneindeutigem“ Geschlecht mit meist genitalverstümmelnden Operationen eines der „beiden“ Geschlechter in den Körper einzuschreiben? Der Körper interessiert auch als absenter, als unsichtbare Körper. Die Unsichtbarkeit von alten Menschen und von Menschen mit Beeinträchtigungen in öffentlich geteilten Bildern ist erschreckend. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach der Produktion von „Schönheitsidealen“ durch kulturindustrielle Bilder. Auch auf Basis hergestellter „Schönheitsideale“ findet Ausgrenzung statt. Die „Verwertung“ von Körpern gerät auch in anderer Hinsicht in den queeren Blick, z.B. bei der Frage: Wie verknüpfen sich heterosexuelle Matrix und Sexualität mit der Reproduktion von Nation?

Kritik – Handeln – Utopien.

Alle diese theoretischen Fragezeichen haben eine Ebene des Alltags, die wir sichtbar machen wollen. Neben der Kritik am normativen 'Normal'zustand dieser Gesellschaft geht es uns auch darum aufzuzeigen, wie die Wirklichkeit noch aussehen könnte. Träume, Ideen, Utopien können Ansätze für queere Praxis und queeres Handeln sein.

Motto.

...und hätten wir ein Motto, würde es lauten: Es gibt nichts queeres, außer mensch tut es! In diesem Sinne seid auch Ihr herzlich eingeladen, Eure eigenen Vorstellungen, Ideen und Erfahrungen mit uns zu teilen, Kritik zu üben, zu stänkern, zu loben, weiter anzuspornen. Gebt uns direktes Feedback gleich hier im Blog oder sprecht uns auf den Filmcreenings, auf dem Symposium oder beim Abtaktcamping an!

...and in english:

Queer it!_ Another attempt about a reluctant term

Before we start highlighting and uncovering what is important to us, the Paranoid Paradise Crew, about “queer” as a concept and whilst making no claims of being completely thorough or formally correct, we’d like to quickly introduce some clarity: The (word) “WE” encompasses a group of roughly ten people (more or less) who range between their mid-twenties and mid-thirties. Each of us identifies themself with the sex allocated to them at birth and this is also how, for the most part, we are seen by others. None of us was born intersexual. There are slightly more “women” than “men” in this group. A few have expertise as drag queens or kings in partying contexts. We are all white, and were all born in the Federal Republic of Germany (or the former GDR respectively), a society within which we have socialised for a substantial part of our lives. We all hold German passports and are part of the academic field (mostly humanities and social science related). We are all seen to be non-impaired/handicapped and also view ourselves as such. We are not experts in any sort of “Queer Theory” and/or queer activism, but we’re working on it =)

General points

A possible way of introducing the German debate about the term “queer” is the unveiling of its original and heavily degrading definition in English, whereby the closest translation would be “weird”, “abnormal”, “of dubious character” or “perverse”. The term “queer” has since then adopted an alternative definition in the English language which was introduced during the last third of the 20th century, when it was chosen by individuals and groups of people as a demonstration of self-empowerment, which was to be used as a self reference, which enabled them to turn the tables on any insulting connotations which were previously linked to the word and to avoid violation. Using the term “queer” in German hides its insulting character as well as the history in relation to this redefinition of the word. Perhaps the term “schwul” (gay) carries similar historical linguistic development, however it doesn’t lead us up the garden path in terms of identity: To us, “queer” is not a collective term for non-heteronormative ways of living, nor for gender-associated concepts or practices that one generally links with terms like “lesbian”, “gay” ,“bi” or “transsexual”. “Queer” is rather an instrument, which allows for investigation and revelation with regards to hegemonic assumptions of what gender is supposed to be, what types of sexuality are legitimate how desirable bodiesshould look and much more. This creates the possibility to examine issues as diverse as homophobia, transphobia and sexism in high-performance sports, the so-called same-sex marriage, the romantic two-person relationship or homophobic and/or racist structures within the gay big city life style, in a trenchant and exemplary way. What’s exciting about the term “queer” is that it functions on different levels. On the one hand, one can make use of the “queer-coloured glasses”, through which a process towards normativity or limitation through the impact of hegemonic relations is analysed respectively.They are a point of view, an investigative method and a strategy of questioning. On the other hand (and now to touch upon the political reality), the idea also holds a tangible, rebellious dimension: “Queering society” - an active disturbance of the societal balance of power, which in turn publicly scrutinises and denounces it.

Normality. Normalisation. Normativity

On a daily basis we deem reality as something unquestioned, often as something unquestionable as well, or simply as “natural.” Balance of power (e.g. in gender roles), which is created day by day yet remains at the same time unexposed, is in some way thought of as a silent requirement. “Queer” gives us the opportunity to make the invisible visible but also to blur and confuse that which is far too obvious and apparently evident, to deal out criticism, but also to proclaim utopias for acting within a binary male-female programmed matrix and putting it into practise.

Gender – Race – Class

During the development of the “Queer Theory” the triad of Gender – Class – Race has proven very fruitful to visibly deconstruct the balance of power and privileges. Gender relations can, for instance, never be looked at separately from racist and class structures: The livingworld and experiential scope of a white, German, middle class family who openly defines themself as lesbian and who lives with their child in the countryside will mostly differ radically from the livingworld and experiential scope of a single, black, German academic from a big city, who is a self-defined heterosexual and who, every now and then, seeks sexual encounters with other men. However, they are also in turn difficult to compare to a white, female migrant worker who is a self-defined heterosexual and who is married to someone from abroad without any prospect of receiving a German passport.

The Heteronormative Matrix and Varieties/Possibilities of Desire.

The romantic dual-person relationship between a (biological) “woman” and a (biological) “man” and their 1.4 children – this can’t possibly be all there is! Or can it? “Queer” wants to address all forms of desire without prejudice and bias, whether it be hetero/homo/bisexuality, or be it polygamy or polyamory, be it cuddle sex, bondage, fist fuck or asexuality. What’s important is solely the general view for questions like: Who determines what is good, proper sexuality? Whose privileges are strengthened by this kind of normative setting?

Criticism of Identity Politics

“Queer” does not want to institutionalise new identity categories, yet has its roots, amongst others, in the criticising of LGBT identity policies, the exclusion and segregation they produce, and points to something that can be described as the creation of a homonormative matrix.

Bodies.

Queer views have also come to focus more on the human body as a subject over which battles for this heteronormative matrix are (literally) fought out. Why is transsexuality still pathologised? Why is it still widespread and common practise for children with ambiguous gender to be put through genitally mutilating operations in order that they belong to one of the two genders? The body is also of interest when in its absent and invisible form. The invisibility of elderly people and people with impairments in images which are publicised to the public is terrifying. In this context, questions surrounding the production of “beauty ideals” through images within the cultural industryarealso presented.. Exclusion is also brought about through the manufacturing of these “beauty ideals”. The queer view also focuses on the exploitation of bodies. For instance, when asking how the heterosexual matrix and sexuality links in with the natural reproduction of a nation?

Critique – Action – Utopias.

All of these theoretical question marks possess elements of everyday life and we want to make them visible. Apart from criticising the normative “normal” state of this society we additionally want to show how an alternative reality might also look. Dreams, ideas and utopias can act as approaches for queer practise and behaviour.

Motto.

… and if we were to have a motto, it would go something like this: There is nothing queer unless one makes it that way! With this in mind you are warmly invited to share your ideas and experience with us, to criticise, vituperate, praise, or encourage us. Give us your direct feedback right here on the blog, talk to us at the screenings, at the symposium or during the concluding camp get-together!


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